Hast du dich auch schon mal gefragt, was das Geheimnis dieser unglaublich luftigen, aromatischen und knusprigen Brote aus der besten Handwerksbäckerei deiner Stadt ist? Die, die du noch am nächsten Tag genießen kannst und die einfach nach mehr schreien? Ganz oft lautet die Antwort: Lievito Madre. Das klingt vielleicht ein bisschen mysteriös und nach uraltem, gehütetem Wissen, aber lass mich dir etwas verraten: Du kannst das auch. Ja, genau du, in deiner eigenen Küche. Es ist kein Hexenwerk, sondern eine wunderschöne, lebendige Partnerschaft zwischen dir, dem Mehl und der Zeit. Stell dir vor, du hast deinen eigenen kleinen, duftenden Mitbewohner im Glas, der nur darauf wartet, dein Backen für immer zu verändern. Das ist kein bloßer «Sauerteig», das ist dein Lievito Madre – dein persönlicher Schatz.
Zutatenliste
So simpel die Zutaten sind, so wichtig ist ihre Qualität. Hier geht es nicht um Quantität, sondern um die beste Basis, die du finden kannst.
- Bio-Roggenvollkornmehl (Type 1150 oder noch besser: Vollkorn): Warum Roggen? Ganz einfach: Roggenmehl ist eine wahre Powerquelle für wilde Hefen und Milchsäurebakterien. Es ist der zuverlässige Antreiber in der Startphase. Nimm ein hochwertiges Bio-Mehl, denn Pestizide können deine kleinen Mikroben stören.
- Lauwarmes Wasser: Nicht zu kalt, nicht zu heiß. Die perfekte Temperatur liegt so bei angenehmen 28-32°C. Ein guter Trick: Es sollte sich handwarm anfühlen, nicht heiß. Wenn du deinen kleinen Finger reinhältst und es kaum spürst, ist es perfekt. Am besten nimmst du gefiltertes oder abgekochtes Wasser, um Chlor zu vermeiden.
- Geduld und Neugier: Kein Scherz! Das sind deine wichtigsten Zutaten. Du beginnst eine Beziehung zu einem lebendigen Wesen. Es wird Höhen und Tiefen geben, Tage, an denen es blubbert wie verrückt, und andere, an denen es sich etwas ruhiger verhält. Das ist völlig normal.
Schritt-für-Schritt-Anleitung
Tag 1: Die Geburt
Nimm ein sauberes, großes Schraubglas (ca. 1 Liter). Gib 50 Gramm deines Roggenmehls und 50 Gramm lauwarmes Wasser hinein. Verrühre alles mit einem Löffel oder deinen Händen (das Gefühl ist wichtig!) zu einer dickflüssigen, klumpenfreien Paste. Der Teig wird recht fest sein – das ist gut so. Verschließe das Glas nicht luftdicht! Leg den Deckel nur locker auf oder spanne ein Gummiband über ein Stück Frischhaltefolie mit ein paar kleinen Löchern. Dein Lievito Madre muss atmen können. Stell das Glas an einen warmen, zugfreien Ort, idealerweise bei 22-25°C. Neben die Heizung oder in den leicht geöffneten Backofen mit eingeschalteter Lampe sind perfekte Plätze. Und jetzt? Jetzt heißt es warten. Für die nächsten 24 Stunden.
Tag 2: Die erste Fütterung (Erstes «Rinfresco»)
Nach etwa 24 Stunden wirst du wahrscheinlich schon erste kleine Bläschen an der Oberfläche oder an den Glaswänden sehen. Es könnte auch schon ein leicht säuerlicher, aber angenehmer Geruch wahrnehmbar sein. Super! Jetzt geht’s ans Füttern, auf Italienisch «Rinfresco». Nimm 50 Gramm von deinem Ansatz (den Rest wirfst du weg oder bewahrst ihn für ein «Notfall-Projekt» wie Pfannkuchen auf – mehr dazu später) und gib ihn in eine saubere Schüssel. Füge wieder 50 Gramm Roggenmehl und 50 Gramm lauwarmes Wasser hinzu. Verknete alles gut, forme es zu einer Kugel, lege sie zurück ins saubere Glas und markiere mit einem Gummiband oder einem Whiteboard-Marker, wie hoch der Teig steht. So siehst du später, ob er wächst. Wieder locker verschließen und für weitere 24 Stunden an den warmen Ort stellen.
Tag 3 bis ca. Tag 7: Der tägliche Rhythmus
Jetzt beginnt der regelmäßige Teil. Jeden Tag, immer zur ungefähr gleichen Zeit, wiederholst du das «Rinfresco» von Tag 2:
- Nimm 50 Gramm des aktiven Ansatzes.
- Füge 50 Gramm Roggenmehl und 50 Gramm Wasser hinzu.
- Verknete es, forme eine Kugel, lege sie ins saubere Glas und markiere die Höhe.
In dieser Phase wirst du ein wahres Schauspiel beobachten können: Der Teig wird nach einigen Stunden deutlich aufgehen, sich vielleicht sogar verdoppeln, und dann wieder zusammenfallen. Das ist der Atem deines Lievito Madre. Der Geruch wird sich entwickeln – von mild über fruchtig-säuerlich bis hin zu einer Phase, die manche als «Käsefuß» oder «vergorenes Obst» beschreiben. Keine Panik! Das ist völlig normal und ein Zeichen dafür, dass sich die Bakterienkulturen noch im Kampf befinden. Einfach weitermachen! Die Geduld zahlt sich aus. Nach etwa 5-7 Tagen wird sich der Geruch beruhigen und angenehm frisch-säuerlich, fast wie Joghurt oder reife Äpfel, riechen. Der Teig wird stabil und kräftig aufgehen und sich schön elastisch anfühlen. Das ist dein Zeichen: Er ist reif!
Der Reifetest: Die Schwimmprobe
Bevor du deinen Lievito Madre für dein erstes Brot verwendest, mach die berühmte Schwimmprobe. Nimm ein kleines Stückchen (etwa einen Teelöffel voll) von deinem gefütterten Ansatz, nachdem er sein Volumenmaximum erreicht hat (das ist wichtig!), und lege es vorsichtig in ein Glas mit kaltem Wasser. Schwimmt es an der Oberfläche? Herzlichen Glückwunsch! Dein Lievito Madre ist voller Luftblasen und stark genug, um ein Brot zu tragen. Geht es unter, braucht er vielleicht noch ein oder zwei Fütterungen. Kein Grund zur Sorge.
Anmerkungen und Variationen
Die Pflege danach: Kühlschrank oder Küchentheke?
Wenn du nicht täglich backst, kommt dein Lievito Madre in den Kühlschrank. Dort schläft er quasi ein und muss nur noch einmal pro Woche gefüttert werden. Das Prozedere ist dasselbe: Nimm ihn raus, lass ihn ein paar Stunden akklimatisieren, nimm 50 Gramm, füttere ihn mit 50 Gramm Mehl und 50 Gramm Wasser, lass ihn 2-4 Stunden bei Raumtemperatur aktiv werden (bis er aufgeht) und stell ihn dann zurück in den Kühlschrank. Willst du backstark sein, solltest du ihn 2-3 Tage vor dem Backen aus dem Kühlschrank holen und täglich füttern, um ihn wieder auf Hochtouren zu bringen.
Von Roggen zu Weizen
Du liebst die Idee eines klassischen italienischen Pandoro oder Ciabatta? Dann kannst du deinen Lievito Madre problemlos auf Weizenmehl Type 550 oder 00 umstellen. Füttere ihn einfach über mehrere Fütterungen hinweg mit Weizen statt Roggen. Beginne mit 25g Roggen und 25g Weizen, dann beim nächsten Mal nur noch 50g Weizen. Er wird sich anpassen und ein wunderbar milder, aber ebenso kraftvoller Trieb werden.
Typische Probleme und ihre Lösungen
- Eine Schicht gräuliches Wasser schwimmt oben: Das ist die sogenannte «Hooch». Sie entsteht, wenn dein Ansatz hungrig ist und Alkohol ausscheidet. Gieße sie einfach ab oder rühre sie unter und füttere ihn sofort. Er verzeiht dir.
- Er riecht streng wie Nagellackentferner: Das ist ein Zeichen von Stress, oft durch zu hohe Temperaturen oder zu lange Fütterungsintervalle. Keine Sorge! Einfach ein paar konsequente Fütterungen im 12-Stunden-Rhythmus bringen ihn meist schnell wieder ins Gleichgewicht.
- Schimmel: Das ist leider der einzige echte Game Over. Wenn sich farbige (rosa, grüne, schwarze) Flecken zeigen, musst du den gesamten Ansatz entsorgen. Aber hey, du weißt jetzt, wie es geht – also einfach neu anfangen!
Und was machst du mit dem ganzen «Abfall», den du bei jeder Fütterung wegwirfst? Nichts wegwerfen! Dieser «Discard» ist reines Backgold. Verrühre ihn mit etwas Mehl, Wasser, einem Schuss Öl und einer Prise Salz für die einfachsten und knusprigsten Sauerteig-Fladenbrote der Welt. Oder mach ihn zu herrlichen Pfannkuchen, Waffeln oder sogar Keksen. Dein Lievito Madre ist ein Geschenk, das sich immer wieder neu schenkt. Also, worauf wartest du noch? Hol dir das Mehl, nimm das Wasser und beginne das Abenteuer. Deine Küche wird nie mehr dieselbe sein.




